Moskau-Berlin

Kann das sein? Ich fliege wirklich nach Berlin? Nein, das glaube ich nicht. Es ist unmöglich. Vielleicht träume ich? Ich, ein ganz einfaches Mädchen aus einer Moskauer Schule? Aber es ist die reine Wahrheit! Wir sitzen gemeinsam mit unseren Eltern in einer Schul-Versammlung und besprechen unsere Fahrt nach Deutschland. Die Rektorin spricht von Verantwortung, von großem Vertrauen. Das Wichtigste ist: Wir sollen unserer Heimat keine Schande bereiten. Das ist die Hauptsache. Und dann natürlich die Frage, wie viel Geld uns unsere Eltern mitgeben sollen. Unsere Eltern schreiben hektisch alles mit. Am Abend, das merke ich schon jetzt, werden meine Eltern sehr ernsthaft mit mir sprechen. Über alles, was sie hier gehört haben und wie ich mich in Berlin benehmen soll. Dann denken sie natürlich auch an das Geld. Aber nein, das Geld — das ist nicht das größte Problem. Wir erkennen, dass alles doch recht schwierig ist. Welche Geschenke sollen wir mitnehmen? Wie sollen wir angezogen sein? Was können wir machen? Was nicht? Über welche Themen kann man sprechen und über welche auf keinen Fall? So viel auf ein Mal. Ich bin sehr nervös: Ich werde viel vergessen von dem, was wir besprechen — auch wenn meine Mama alles genau mitschreibt. So viel kann ich gar nicht behalten! Und natürlich werde ich mit Sicherheit irgendwelche Dummheiten sagen.

Ich schaue auf die anderen Eltern, die neben uns sitzen und viele Notizen auf ihre Zettelchen schreiben. Alle sind angestrengt. Niemand lächelt. Alle haben ein bisschen Angst vor dieser Reise! Niemand möchte sich blamieren. War es wirklich nötig, so um diese Reise zu kämpfen?

Denn das haben wir: Wir haben gekämpft! Und wie! Das ist kein Witz. Aus 80 Kindern, die sich beworben hatten, sollten nur 25 ausgewählt werden — die Besten! Und wie kann man die Besten finden? Das war schwierig.

In erster Linie sollten es sehr gute Schüler sein, aber wir alle lernen grundsätzlich gar nicht schlecht. Unsere Schule stellt hohe Anforderungen. Wer hier nicht sehr gut lernt, der sollte am besten sofort die Schule verlassen. Alle Kinder bei uns sind begabt, das ist richtig. Natürlich sollte, wer mit nach Berlin reisen wollte, die deutsche Sprache gut beherrschen. Das war wichtig bei der Auswahl der Teilnehmer, aber es war auch klar, dass wir hier eine Schule mit erweitertem Deutschunterricht besuchten. Wir hatten zehn Stunden Deutsch in der Woche! Das ist nicht wenig. Dazu deutsche Literatur und Geschichte, und ständig haben wir Gäste aus Deutschland an unserer Schule. Das alles fördert unsere Deutschkenntnisse und was die deutsche Sprache betrifft, so haben wir alle ein hohes Niveau. Wer in Sprachen schlecht ist, der hat an unserer Schule sowieso nichts verloren. Entweder du bekommst ausgezeichnete Noten oder es ist eine Schande ohne Ende. Im ungünstigsten Fall genügt vielleicht die Note «gut», aber wenn man schlechtere Zensuren schreibt, dann macht das keinen Sinn an unserer Schule.

Man stelle sich vor, ein Gast aus Deutschland kommt zu uns und stellt eine Frage. Da ist völlig unmöglich, nicht zu antworten. Sofort sieht dich unsere Klassenlehrerin Faina mit so strengen Augen an, dass du automatisch zu antworten beginnst.

Ehrlich gesagt, unsere Schule ist sehr gut. Und ganz gute Deutsch-Kenntnisse bekommen wir auch. Wie verrückt lernen wir die treffendsten deutschen Formulierungen. Und selbst, wenn wir nervös sind oder wenn wir Bauchschmerzen haben — die zehn wichtigsten deutschen Formulierungen vergessen wir nie. Darum haben wir auch keine Angst, mit Deutschen zu sprechen. Wir alle waren schließlich sehr aktiv und engagiert «in Sachen deutsche Sprache».

Doch darf man nicht vergessen, dass wir für zwei Wochen nach Berlin fahren — das ist etwas ganz anderes. Nicht nur zwei Stunden deutsch sprechen und dann ist Schluss. Nein! Hinzu kommen viele zusätzliche Aktivitäten im Rahmen des Schüleraustausches zwischen einer russischen und einer deutschen Schule. Da ist zum Beispiel ein «Tag der deutschen Sprache» geplant und ein «Tag der russischen Sprache» natürlich. Wir sollen singen und tanzen. Das heißt, wir sollten alle auch noch musisches Talent haben, auch das war ein Auswahlkriterium. Hat das Kind ein besonderes Talent oder nicht? Kann es tanzen, ein Musikinstrument spielen? Und so weiter und so weiter.

Insgesamt heißt das also: Wir sollten sprachbegabt sein, gut erzogen und gehorsam. Das ist nicht gerade wenig, oder? Deshalb sehen wir heute auf dieser Versammlung wegen der Berlinreise auch meinen besten Freund Kupzov mit seiner Mutter nicht. Das finde ich so schade. Aber er hat selbst Schuld. Zum Fest der Frauen sollte er Blumen für unsere Lehrerin kaufen. Und was hat er gemacht? ER hat das Geld von uns allen eingesammelt — aber wofür er dieses Geld verwendet hatte, daran konnte er sich allerdings nicht erinnern… Ach, nicht so wichtig, hatte er gedacht und dann einfach alle Blümchen vom Schulhof stibitzt. Das war natürlich nicht gerade schön. Alle haben gleich erkannt, warum der Schulhof jetzt so nackt aussieht und warum alle Lehrerinnen statt Rosen diese kurzen Blümchen bekommen hatten.

Jetzt also erkennen wir die Folgen dieser Dummheiten. Der kluge und begabte Kupzov fährt nicht mit. Weil er schlecht erzogen ist, ganz einfach!

Und jetzt, wer fährt nun mit? In erster Linie unser Chor — das sind acht Mädchen aus unserer Klasse. Und ich bin der Chorvorstand — nein, nicht weil ich besser singe als alle anderen, sondern weil ich gut organisieren kann. Das ist schon von Bedeutung und spielte einige Male eine große Rolle. So zum Beispiel, als es um Marinka Generalova ging. Sie war Mitglied in unserem Chor und sang besser als jede andere von uns. Sie hatte eine unvergleichliche Stimme, tief und laut. Klar, dass wir Marinka immer etwas näher ans Mikrofon stellten, wenn wir ein Konzert gaben. Und wir anderen bildeten die «Chorkulisse» zu ihrer Stimme.

Und dann passierte das: Marinka sollte nicht mit nach Berlin fahren. Das war eine Katastrophe für uns! Bis jetzt konnten wir uns alle immer offen und ehrlich in die Augen sehen — aber jetzt sollten wir ein Mitglied aus unserem Chor einfach aussortieren? Von dieser Fahrt nach Berlin einfach so ausschließen? Die Erwachsenen hatten uns die Wahl überlassen — wir sollten selbst bestimmen, wer von uns es nicht verdient hätte, mitzufahren. Oh Gott, was war das für eine schwierige Wahl! Unglaublich schwierig. Aber wir hatten keine andere Möglichkeit. Eine von uns musste zu Hause bleiben. Und wir sollten den Grund dafür finden. Das haben wir auch, denn Marinka lernte schlechter als wir alle; sie war die schlechteste Schülerin in unserem Chor. Das stimmte zwar, war aber für den Chor überhaupt nicht wichtig. Es blieb uns gar nichts anderes übrig, als unseren Lehrern zu widersprechen: «Entweder fahren wir alle zusammen oder wir fahren gar nicht.»

Aber wir wollten doch alle so gerne nach Berlin! Eine solche Möglichkeit bekommt man wahrscheinlich nur einmal im Leben! Insbesondere wenn man daran denkt, dass es das Jahr 1978 war. Nicht einmal alle unsere Eltern waren je im Ausland gewesen. Und wir mussten zudem nur die Zugfahrt bezahlen, alles anderes bezahlte die Schule. Wann würde sich uns jemals wieder eine solche Gelegenheit eröffnen?

Also «verkauften» wir unsere Freundin Marinka. Und jetzt sitzen wir hier in dieser Versammlung, hören kluge Reden über richtige Manieren. Wir sehen uns ab und zu an und denken alle dasselbe — und es drückt auf unsere Seelen. Es will keine richtige Stimmung aufkommen

wegen dieser Geschichte mit Marinka. Wir alle dachten nur: Sind wir tatsächlich die letzten Luder, oder gibt es für uns noch eine Chance, bessere Menschen zu sein? Gibt es eine Entschuldigung für uns oder ist alles zu spät?

Eine Entschuldigung für uns haben wir schnell gefunden: Wir dachten nicht darüber nach, dass die Fahrt für uns schön sein sollte, sondern dass wir auf der Fahrt unser Land um jeden Preis so gut wie möglich präsentieren müssten. Marinka fährt nicht, aber der Chor muss fahren! Ohne Marinka wird es zwar nicht so schön, aber wir kennen alle Lieder, und unser Repertoire, sowohl in russischer als auch in deutscher Sprache, ist umfangreich und schön. Nina begleitet am Klavier. Gott sei Dank, dass wir sie nicht weggeschickt haben, denn ohne Begleitmusik wäre es wirklich unmöglich. Denn wenn wir etwas falsch singen, dann spielt Nina einfach etwas lauter.

Und wir haben beschlossen, Marinka ein teures Geschenk zu kaufen. Trotzdem bleiben wir schlechte Freundinnen, aber wir wollen so sehr gerne nach Berlin fahren!

Also, wer fährt nach Berlin: Die Kapelle — außer einer Person, dann fahren mit unsere Komsomolleiterin Ira und noch ein paar Mädchen aus der Klasse «B». Die sind natürlich alle sehr frech, aber uns hat ja niemand gefragt. Aber es ist nicht so schlimm, wir sind viel mehr. Und natürlich fahren die Jungen mit, ohne sie geht es gar nicht. Andrej ist sehr intelligent und hat eine Balalaika. Spielen kann er zwar nicht, aber das ist nicht so wichtig. Die Balalaika ist ja auch nur für die Begleitung wichtig, klar. Dann fährt auch Pavel mit. Er ist nicht intelligent, lernt schlecht und kommt nicht weiter, in der deutschen Sprache versteht er auch wenig. Warum kommt er dann mit? Ich weiß es nicht. Ich habe gehört, dass seine Mutter eine gute Freundin einer unserer Lehrerinnen ist. Vielleicht ist es deshalb.

Den Bahnhof von Belorusskij haben wir noch sehr gut vom vorigen Jahr in Erinnerung, denn dort hatten wir die Gruppe aus Berlin abgeholt.

Unsere zukünftigen Freundinnen wollten zuerst nicht aus den Wagen aussteigen. Sie hatten solche Angst. Sie wussten ja auch nicht, was für Leute wir Russen sind! Dann begannen sie, langsam den Wagen zu verlassen. Es kamen nur Mädchen heraus. Sie hatten blaue Hemden an. Wir waren alle sehr gespannt, sie und wir gleichermaßen. Wir hörten Wörter, die wir bestimmt kannten, die wir aber trotzdem nicht übersetzten konnten. Das war alles ganz anders als in unserer Deutschstunde. Als erste erwachten unsere Lehrer: «Natascha, Lena, warum helft ihr den Mädchen nicht? Bitte nehmt ihre Rucksäcke.»

Wir begannen, umständlich unsere Hilfe anzubieten. Die Deutschen rutschten zur Seite. Die Spannung löste sich, als bei einem der Mädchen der Rucksack aufging und alles auf den Bahnsteig fiel: Alle begannen nun, schnell die Sachen wieder einzusammeln. Und was sehen wir? Lippenstifte! Mensch, kein Zweifel. Und wir begannen alle zu lachen und einander zu helfen.

Ein Mädchen kam mit Gitarre. Gut! Das heißt also, dass wir zusammen singen werden.

«Spielst du Gitarre?», fragte ich. «Wie schön, ich heiße Lena. Und ich spiele Klavier, wie heißt du?»

«Petra. Setzen wir uns im Bus zusammen?»

«Na klar! Und wie alt bist du? 16? Ich bin 15. Und in welche Klasse gehst du? Was willst du in Moskau in erster Linie sehen? Weißt du, du sollst einen Tag in einer Familie verbringen. Kommst du zu mir? »

Als einmal die Sprachhemmung gebrochen war, redeten wir ohne Pause. Unsere Lehrer waren erleichtert, dass der erste Kontakt gemacht war. Natürlich blickte uns Faina ab und zu streng von der Seite an, wenn sie hörte, dass wir die Modalverben nicht richtig benutzten, aber das war uns egal. Wir sprachen, und die deutschen Mädchen verstanden uns. Es war so wahnsinnig interessant!

Die Woche mit unseren deutschen Gästen verging so schnell, als wäre es nur ein Tag gewesen. Und schon wieder standen wir auf dem Bahnsteig, jetzt, um uns von unseren besten lieben und einzigen Freundinnen zu verabschieden. Zuerst sangen wir die Lieder Arm in Arm zusammen mit der Gitarre von Petra, dann mussten wir alle zusammen weinen. Wir liefen den Wagen hinterher, die sich schon langsam in Bewegung setzten, und unsere neuen Freundinnen schrien aus der Fenstern.

«Wir warten auf euch! Bis zum nächsten Jahr, wenn wir uns in Berlin treffen.»

Unsere Lehrer ermahnten uns nicht. Sie verstanden sehr gut, wie schrecklich der Abschied war, sie litten mit uns. Und gleichzeitig waren sie glücklich: Gott sei Dank, alle sind weggefahren. Alle sind gesund und glücklich, niemand hat etwas verloren, und alle sahen so zufrieden aus.

Und wir hatten das ganze Jahr Angst, ob wir nun nach Berlin fahren würden oder nicht. Nur 25 Schüler sollten diese Möglichkeit bekommen, mehr nicht — aber wer von uns wäre dabei?

Und jetzt sind wir wieder an unserem wohlbekannten Bahnhof von Belorusskij Wir fahren, es ist wie im Traum! Wir haben unsere Festuniform angezogen: Weiße Hemden, schwarze Röcke, und natürlich die roten Pionierhalstücher. Alle unsere Verwanden sind natürlich auch da. Auch meine schwangere Schwester. Sie eilt zwischen uns hin und her und gibt pausenlos Ratschläge, so als ob sie schon einmal in Ausland gewesen wäre. Aber sie ist so ein Mensch, der alles weiß und die ganze Zeit den anderen etwas erklären möchte. Aber heute geht mir das nicht auf die Nerven. Ich bin stolz. Außerdem habe ich in meinem Koffer viele schöne Sachen von meiner Schwester, die sie zurzeit sowieso nicht tragen kann. Sie ist während ihrer Schwangerschaft so freundlich geworden und sagt. «Nimm alles, was du willst!» Kann man sich das vorstellen? Ich nicht, aber wenn ich meinen Koffer öffne, dann sehen alle ihre schönen Kleider. Wie gut, eine schwangere Schwester zu haben. Ich werde auf jeden Fall etwas für das kleine Baby kaufen.

Aber jetzt sollen wir endlich losfahren. In eineinhalb Tagen sind wir in Berlin. Für uns ist diese Fahrt viel leichter als für unseren deutschen Freundinnen, denn wir wissen zwar nicht, wohin wir fahren, aber zu wem — das wissen wir ganz genau.

Als der Zug noch nicht ganz angehalten hat, sehen wir schon unsere Freundinnen, die mit Blumen am Zug entlang laufen.

«Petra!»

«Lena!»

«Katja», ruft meine Freundin Natascha Zvereva, als sie «ihre» Katrin sieht. Wir umarmen einander, lachen und weinen gleichzeitig, vor Freude. Wir fühlen uns sofort wieder eng verbunden, da sind keine Sprachbarrieren. Wir haben uns so sehr gefreut, und nun sind wir endlich in Berlin. Alle haben uns hier erwartet. Hurra!

Wir fahren mit dem Bus. Alles ist neu, ungewöhnlich. Petra versucht gleich alles zu zeigen und zu erklären. Mir platzt schier der Kopf bei so vielen Informationen.

Wir haben gehört, dass wir in der Schule wohnen sollen. Ich hoffe aber, dass wir nicht auf dem Boden oder auf Sportmatten schlafen müssen. Lachen Sie bitte nicht! So etwas ist schon

passiert in unserem Leben: Wir waren auf einer Wanderung, die ganze Klasse, da haben wir in einer Dorfschule in der Sporthalle übernachtet. Und geschlafen haben wir alle direkt auf den Matten. Faina — ich weiß nicht, warum — schlief auf einer Schulbank Es war eiskalt und noch dazu sehr unbequem. Am nächsten Morgen konnten wir weder gehen noch sitzen. Wir kochten am offenen Feuer, die Gesichter wuschen wir uns im Fluss.

Na, ich hoffe, dass es in Deutschland anders ist.

Unterwegs schauen wir uns Berlin vom Busfenster aus an. Wer kann schon sagen, mit 16 Jahren Berlin zu besuchen? Nur wir. Wir haben solch ein Glück! Wir fahren über die berühmte Straße «Unter den Linden», zum Brandenburger Tor, zum Fernsehturm… Wir sehen alles.

Aber trotzdem fühlen wir nicht nur Begeisterung, sondern auch Angst. Das Wichtigste ist, dass wir uns nicht blamieren, dass wir nichts Falsches machen, wofür wir uns dann schämen müssten. Wir haben alles 100 Mal besprochen. Über Etikette, Manieren. Über Themen, über die man sich unterhalten kann. Was wir mit Begeisterung erzählen dürfen, und worüber wir lieber schweigen. Und das Wichtigste: Wir leben in dem besten Land der Welt. Ein besseres Land gibt es nicht. Nie möchten wir unser Land gegen ein anderes eintauschen. Egal, was wir hier sehen: Bei uns ist alles besser. Und vor allem haben alle Menschen in der Sowjetunion eine große Seele. Daran müssen uns nicht einmal unsere Lehrer erinnern.

«Vergesst nicht, wie Heidi mit Blinddarmentzündung ganz plötzlich ins Krankenhaus musste! Und wer hat sie besucht? Nur wir! Na also! »

Aber so war es tatsächlich gewesen. Und wir hatten uns alle sehr gewundert und waren enttäuscht. Warum gingen die Mädchen und der Lehrer sie nicht besuchen? Wir sind so etwas bei uns gar nicht gewohnt. Wenn es bei uns jemandem schlecht geht, dann halten wir erst recht eng zusammen.

Ich werde nie vergessen, als unsere Lehrerin Sofja Evimovna krank war. Zuerst war sie in einem Krankenhaus. Wir besuchten sie dort alle zusammen. Sie lag in einem großen Raum mit 20 Personen. Einige schliefen. Wir weckten alle Patienten mit unserem Lärm. Unser Besuch dauerte eine ganze Weile, ich weiß nicht warum, aber wir waren überzeugt, ein Besuch müsse eine Stunde dauern. Die armen Frauen, die versuchten, neben unserer Sofja gesund zu werden, an sie haben wir gar nicht gedacht. Wahrscheinlich mussten sie auf die Toilette und ähnliches. Aber wir waren ja Kinder, uns war das egal. Als es Sofja dann wieder besser ging, lag sie noch für einige Zeit zu Hause. Auch dorthin kamen wir alle zusammen - ja, alle 38 Kindern. Erst hatten wir uns lange gestritten, wer von uns denn gehen solle, aber um uns nicht darum schlagen zu müssen, entschieden wir dann, dass wir alle zusammen gehen sollten.

Sofja wohnte bescheiden in einer sehr kleinen Wohnung. Die arme Frau war sehr aufgeregt, denn sie wusste nicht, wohin wir uns setzen sollten. Und was sie uns zum Essen anbieten sollte. Um sie nicht zu enttäuschen, haben wir in ihrer Wohnung alles gegessen, was sie uns anbot, und erzählten dazu sehr ausführlich über uns selbst. Das ging natürlich nicht sehr schnell. Wir waren mit diesem Besuch aber sehr zufrieden. Allerdings weiß ich nicht, wie unsere Lehrerin Sofja unseren Besuch fand. Aber das war vor fünf Jahren, jetzt sind wir älter geworden und verstehen schon: einen kranken Menschen zu besuchen ist etwas ganz anderes. Aber ist es sehr schön, wenn jemand zu dir kommt, wenn du krank bist. Und es ist furchtbar, wenn du allein mit Schmerzen und Fieber daliegst und dich so schrecklich allein fühlst. Darum stand es im Fall von Heidi 1:0 für uns.

Aber zurück zu unseren Manieren: Wir sollten also alles anschauen, uns dann bedanken, intelligent und korrekt sein — aber auch die Geschichte mit Heidi nicht ganz verdrängen. Wir

mussten die ganze Zeit aufpassen: Nur Russen haben ein solch großes Herz und so weite, offene Seelen.

Es gibt aber auch allen Grund, neidisch zu sein. Alles ist so sauber, beim Frühstück gibt es fünf Sorten Wurst, die Bettwäsche ist so schön rot-weiß-kariert. Alles ist so anders, nicht so wie bei uns zu Hause. Wir waren zwar nicht überrascht, aber es machte uns alle völlig verrückt, was wir in Deutschland sahen. Ob wir das alles gut finden? Eigentlich schon, aber ehrlich gesagt, ist diese ganze Situation auch sehr ermüdend. Die ganze Zeit müssen wir uns anstrengen: Wir müssen die deutsche Sprache verstehen, richtig antworten, dürfen das Lächeln nicht vergessen — und müssen trotzdem immer aufpassen.

«Der Fernsehturm ist sehr schön, aber bei uns in Moskau haben wir auch einen», und sofort spulen wir das Thema aus unserem Schulprogramm «Moskauer Fernsehturm — Wunder der modernen Architektur» ab.

Wir sind die ganze Zeit angespannt, wir können uns nicht normal erholen, nur denken und aufpassen.

Und mit diesem Fernsehturm war etwas sehr Schlimmes passiert, es ist unmöglich, sich die ganze Zeit an alles zu erinnern. Die ganze Zeit nur aufpassen. Und so passiert dann diese Geschichte mit uns. Natürlich sind meine Freundin Zvereva und ich daran beteiligt, ich etwas mehr, sie ist einfach mit dabei.

«Schau mal, das Brandenburger Tor!»

«Und dort ist die Schule, wo wir wohnen! Man kann alles so schön sehen. Weil wir so hoch sind. »

«Und wie schön alles beleuchtet ist!»

«Wahnsinn!»

«Mädchen, seid ihr aus der Sowjetunion?», fragt uns eine Frau mittleren Alters mit einer großen dunklen Sonnenbrille auf Russisch.

«Stimmt. Schulaustausch. Und was machen Sie hier?»

«Ich war bei meiner Tochter zu Besuch. Sie ist mit einem Deutschen verheiratet, jetzt lebt sie in Berlin», und sogleich beginnt die Frau leise zu weinen und erzählt weiter: «Wie schade, unsere arme Tochter. Hier in Deutschland, das ist überhaupt kein Leben.»

» Wieso? Warum kein Leben? Hier ist doch alles sehr gut! Man kann nur neidisch sein im Vergleich zu unserem Leben in der Sowjetunion. Oder nicht?», versuche ich die Frau zu beruhigen. Aber sie weint und weint. «Und Essen und Kleidung — man kann alles kaufen, was man sich nur wünscht.»

Oh je, plötzlich merke ich, dass ich ganz vergessen habe, was ich über die Sowjetunion erzählen darf und was nicht. Ich kleines Dummchen. Ich spüre, dass mich jemand am Ellbogen antippt. Als erste kommt Zvereva wieder zu Verstand. Der kalte Schweiß läuft mir den Rücken hinunter. Wie konnte ich nur so blöd sein und alles vergessen? Was ist das für eine Frau? Ich versuche, alles gleich wieder richtig zu stellen, und beginne schon zu erzählen, wie frisch die Luft in unserem Land ist, aber die Frau ist schon verschwunden.

Die Stimmung ist verdorben. Schrecklich, was kommt jetzt? Komme ich jetzt sofort ins Gefängnis? Oder noch schlimmer: Sie klauen mich einfach. Ja! Ganz einfach, sie ziehen mich am Arm durch die Mauer, schnell und ohne Problem, niemand merkt etwas, und in einer Sekunde bin ich auf der andere Seite der Berliner Mauer.

In der Nacht erzählen wir den anderen Mädchen ganz leise, was mit uns passiert ist.

«Schlimm, ganz schlimm. Wozu habt ihr das alles erzählt?! Unsere Eltern haben uns doch nicht umsonst ermahnt. Und was jetzt?»

«Wir sind so traurig, bitte sagt jetzt nichts mehr.»

«Na gut. Aber keine Angst. Ab heute gehen wir nur alle zusammen spazieren, und der Mauer nähren wir uns nicht. Hoffen wir, dass nichts Schlimmeres passiert», beruhigt uns unsere Komsomolleiterin. Sie ist sehr klug, sie kann die richtigen Entscheidungen treffen.

Trotzdem können wir nicht ruhig schlafen. Und der nächste Tag ist nicht so einfach: Es ist der Tag in der Familie.

Als Petra bei uns war, war alles viel einfacher. Unsere ganze Familie war mit einbezogen, alle machten mit. Zuerst wählten wir das Essen. Aber es war klar, dass es «Pelmeni» geben sollte, unsere Lieblingsspeise. Unsere Eltern sind aus Sibirien, dieses Gericht haben sie von dort mitgebracht. Wir machten das alle zusammen: Mutter das Fleisch, wir klebten die Teigmasse. «Pelmeni» ist unser bestes Essen! Man kann es gut mit Bouillon oder mit saurer Sahne essen.

Beim Kulturprogramm gingen wir natürlich in die Gemäldegalerie. Eine Attraktion war auch der Gorkipark mit seinen vielen Karussells. Zu Hause schauten wir in Ruhe Fotoalben an.

Ich war nach diesem Tag hundemüde. Die ganze Zeit musste ich sprechen und antworten, und noch dazu für meine ganze Familie als Dolmetscherin arbeiten. Meine Verwandten waren sehr neugierig und fragten ständig etwas. Und die gut erzogene Petra antwortete auch sehr ausführlich. Petra war mit allem zufrieden: Unsere Fotos haben ihr sehr gut gefallen, und «Pelmeni» natürlich auch.

Und was bietet mir die Familie von Petra an?! Ich glaube, am liebsten bleibe ich den ganzen Tag für mich allein, dann muss ich nicht sprechen, nichts verstehen, nicht antworten. Nur schweigen. Oder noch besser: schlafen. Das wäre schön.

Die Familie von Petra Lindt denkt aber nicht so. Petra hat viel von dem Tag erzählt, den sie in meiner Familie verbracht hat. Sie möchte mir unbedingt auch viele Überraschungen machen. Es soll eine Überraschung nach der anderen kommen. Ohne Pause. Ich bin schon ganz verrückt von ihrem Erfindergeist — verrückt vor Freude, aber auch verrückt vor lauter Anstrengung.

Beginnen wir damit, dass Petra Lindt eine große Familie hat: Vater, Mutter und zwei Brüder, 14 und 4 Jahre alt. Wir verbringen also den ganzen Tag mit sechs Personen, alle zusammen. Und sie alle wollen den ganzen Tag mit mir sprechen. Ohne Pause. Und das ist nicht sehr einfach. Wissen Sie, es gibt die deutsche Sprache, die Männer sprechen, und eine, die die Frauen sprechen. Bitte wundern Sie sich nicht. Wahrscheinlich wissen das nicht einmal die Deutschen selbst, aber für mich ist das ganz klar, dass die Frauen und Männer unterschiedliche Sprachen sprechen. Der Junge, der 4 Jahre alt ist, spricht undeutlich und ist sehr schwer zu verstehen. Aber trotzdem will er mit mir sprechen, und will auch Antwort bekommen. Und der Junge, der 14 Jahre alt ist — er ist Teenager. Ihm war eigentlich alles egal. Wozu sollte er mit diesem russischen Mädchen den ganzen Tag verbringen, ihm seine freie Zeit widmen? Er hat bestimmt ganz andere Interessen. Darum spricht er nicht, sondern nuschelt irgendetwas zwischen seinen Zähnen und schaut währenddessen auch noch zur anderen Seite. Ich kann ihn gar nicht hören! Und trotzdem erwarten alle eine Antwort von mir.

Noch schlimmer sind unsere gemeinsamen Essen. Das ist etwas Besonderes. Das sind nicht unsere «Pelmeni», die kann man mit dem Löffel essen. Hier isst auch der kleine 4-jährige

Thorsten nur mit Messer und Gabel. Schon das Frühstück beginnt schrecklich, als ich ein Ei im Halter bekomme.

Aus diesem Grund hatten wir vor unserer Reise eine spezielle Übung «Gute Manieren, oder wie man sich richtig am Tisch benimmt». Diesen Unterricht gab uns unsere Lehrerin Nina Pavlovna. Nina Pavlovna erteilte uns einen speziellen Unterricht: Techniken zur Übersetzung der deutschen Sprache. Aber uns war allen unklar, wozu wir diese Techniken benötigten. Nina Pavlovna war im Grunde ihres Herzens mit uns einer Meinung, und erzählte uns alles sehr allgemein. Wie soll man zum Beispiel übersetzen, wenn man überhaupt nicht versteht, worum es geht? Es passieren solche Sachen im Leben eines Dolmetschers: Du sollst etwas übersetzen, aber du verstehst gar nicht, worum es geht. Was soll der Dolmetscher in einem solchen Fall machen? Vielen Dank, liebe Lehrerin, vielen Dank für die Ratschläge: Erst schweigen wir und lächeln immer, nicken mit dem Kopf, und früher oder später hören wir endlich ein bekanntes Wort, dann weiß man endlich ungefähr, worum es geht, man kann mit dem Übersetzen beginnen.

In den Stunden mit ihr sprachen wir mehr über das Leben im Allgemeinen. Nina Pavlovna war keine sehr junge Frau mehr, sie war eine Frau über… — ich vermute über 60. Und trotz ihres Alters sah sie noch sehr gut aus. Sie brachte uns kleinen Mädchen kleine Tricks und Kniffe bei, die uns helfen sollten, das Älterwerden gut zu überstehen. Die erste Regel lautete: Wir sollten unser eigenes Alter lieben und immer damit zufrieden sein. Wir sollten uns nie schämen und uns unserem Alter gemäß verhalten, unser Alter aber auch besonders betonen. Das war wichtig.

«Wenn wir die ersten Falten sehen, müssen wir als erstes den Halsschmuck ablegen. Der Hals wird bei Frauen als erstes alt, warum sollen wir dann die Aufmerksamkeit der anderen auf ihn lenken? Als nächstes kommen die Ringe: Wenn man merkt, dass die Hände nicht mehr so elegant und schön sind und die Männer nicht mehr verrückt machen, muss man sofort alle Ringe den Nichten schenken. Sofort! Und weint ihnen nicht nach! Unsere Hände sollen natürlich weiterhin sehr gepflegt sein, mit Maniküre, aber ohne Ringe. Unsere Knie öffnen wir nie, sobald wir über 40 sind. Nie! Auch wenn ihr ganz tolle Beine habt und sie noch jedem zeigen wollt: Selbstbeherrschung und nochmals Selbstbeherrschung!»

Diese romantischen Gespräche waren für uns viel wichtiger und interessanter als die ganzen Kurse über die Übersetzungstechniken.

«Gute Manieren» — das war ein Thema wie gemacht für Nina Pavlovna. Sie erzählte uns alles: wie wir richtig sprechen sollen und mit welcher Betonung, dass wir Tee nur am Abend trinken sollen, zum Mittagessen aber Wasser oder Saft oder Pepsi, dass wir nicht ständig um Tee bitten sollen, denn nur in Russland trinkt man ständig Tee, und dass wir zum Frühstuck unbedingt Kaffee bestellen sollen, und das unbedingt mit Milch.

Aber das Schwierigste sind die Eier! Über Eier erzählt Nina Pavlovna lange und ausführlich: Es fängt schon damit an, wie man es aufschlagen soll. Nicht am Tisch, und auch nicht an der Stirn des Nachbarn. Nein! Unmöglich. Man muss es ganz vorsichtig mit dem Messer öffnen und dann die Spitze beseitigen. Danach kommt die nächste, sehr wichtige Frage. Wo sollen wir die Schale hintun? Nicht auf den Teller, nicht auf die Decke (um Gottes willen, nein!). Sondern in den Eierbecher! Eigentlich ganz einfach.

Weil Nina Pavlovna uns über das Thema Eier alles so ausführlich erzählt hatte, hatten wir es auch gleich verstanden. Das Eieressen schien wohl die wichtigste Etikette zu sein!

Bis zum letztem Moment habe ich dann gehofft, dass ich zum Frühstuck ein Omelett oder einfach ein Stückchen Wurst bekommen würde. Aber nein, die Mama von Petra bringt tatsächlich Eier. So bin ich vom ersten Moment an voll Anspannung, und so geht es weiter bis zum späten Abend.

Abends im Erholungspark (im Karussellpark) höre ich ganz plötzlich eine bekannte Stimme: «Lena!» Das ist meine Freundin Natascha Zvereva, wie schön, wie kann das sein! Mitten im Zentrum von Berlin treffe ich meine liebe Freundin. Sicher hat sich die Familie ihrer Freundin auch für diese Sehenswürdigkeit entschieden.

Wir rennen aufeinander zu, als hätten wir uns das ganze Jahr nicht gesehen. Wir umarmen und küssen uns. Man kann sich vorstellen, wie überrascht unsere Begleiter sind, aber das ist uns egal!

«Lena? Wie geht es dir?»

«Schrecklich. Ich habe jetzt schon keine Kraft und Geduld mehr. Und du?»

«Genauso. Aber wir haben noch zwei Stunden, wie sollen wir das schaffen?»

«Natascha, ich weiß es nicht. Ich bin völlig fertig, so müde. Ich kann nicht mehr lächeln und dieser Sprache zuhören. Ich kann keine Begeisterung mehr zeigen.»

«Aber Lena, sei bitte noch tapfer. Schau, diese Leute wollen uns doch nur etwas Gutes tun.»

So gehen wir wieder ganz langsam und schlecht gelaunt zu unseren Familien.

Abends erzählen wir alle, was am Tag so passiert ist. Ich habe wirklich sehr viel erlebt an diesem Tag, viel mehr als alle anderen. Mit einem kleinen Boot bin ich auf der Spree gefahren, ich war auf einer Datscha, nicht weit von Berlin. Dort haben wir alle zusammen Rhabarberkuchen gegessen. Wir sind auch sehr viel zu Fuß gegangen. Dann habe ich sogar noch eine schöne Jacke geschenkt bekommen, die für Petra zu klein war. Und das Wichtigste: Weil nun alles vorbei ist, kann ich alles mit großer Erleichterung erzählen. Meine Anspannung ist weg, jetzt, wo ich wieder unter meinen Freundinnen bin. Ich brauche keine Angst mehr zu haben und kann über meine Dummheiten lachen.

«Könnt ihr euch vorstellen, dass in dieser Datscha alles rot-weiß-kariert war? Ganz hell und lustig. Es hat mir sehr gut gefallen. Und wo, habe ich gefragt, ist hier die Toilette? Na hier, antworteten sie, du siehst doch diese Tür. Natürlich sehe ich diese Tür! Auf der Tür gibt es aber so ein kleines Loch in Herzform. Das Loch ist zwar klein, aber man kann dadurch genau auf die Kloschüssel schauen. Das ist ja vielleicht ganz nett, aber wie soll ich dann aufs Klo gehen? Soll ich etwa sagen: Bitte schauen Sie nicht in diese Richtung!? Nein, nein, habe ich dann gesagt, ich muss grad gar nicht gehen, ich habe nur so ganz allgemein gefragt, falls ich einmal muss.»

«Aber Lena, wie dumm du bist. Dieses Loch kann man doch bestimmt von der anderen Seite schließen, und dann merken sofort alle, dass das Klosett besetzt ist.»

«Das klingt ja wirklich ganz einfach, und ich habe es nicht verstanden. Aber wir denken nun einmal so. Und wenn wir etwas falsch machen, was passiert dann? Blamieren wir uns? Nein!»

«Mädchen, ihr könnt euch nicht vorstellen, wie gerne ich wieder nach Hause möchte. Bei uns daheim ist es doch viel besser, nicht wahr?»

«Stimmt! Und zu Hause können wir so viele Eier essen, wie wir wollen!»

«Aber jetzt müssen wir schlafen. Morgen ist noch ein schwieriger Tag. Der Tag der sowjetisch-deutschen Freundschaft. Wir sollten ein bisschen früher aufstehen, damit wir noch ein paar Wörter lernen können. Und dann können wir schon unsere Koffer packen!»

Unser Fest war sehr lustig. Wir tanzten russische Tänze. Andrej hatte natürlich seine Balalaika dabei. Er konnte zwar nicht spielen, aber er trug sie mit sich herum und lächelte alle an. Und in Pavel hatte sich das deutsche Mädchen verliebt.

«Lena, komm mal bitte!»

«Was willst du?»

»Übersetz mir bitte, was sie sagt!»

«Du sollst selber Deutsch lernen. Und nicht in den Unterrichtsstunden schlafen.»

«Na gut, ich werde mich ändern! Ich verspreche es! Aber jetzt brauche ich deine Hilfe, bitte, ich glaube, das Mädchen hat ein Problem!»

Die Verabschiedung war so laut wie damals in Moskau. Wir gaben einander die Adressen und schrieben nochmals die deutschen Liedtexte auf. Wir weinten und lachten gleichzeitig. Niemand weiß, was im Leben noch alles passieren wird: Sieht man sich noch einmal oder sieht man sich nie wieder? Marion, das Mädchen, das sich in Pavel verliebt hatte, versuchte ihm etwas zu erklären. Aber er lächelte nur dumm und zeigte seine Ratlosigkeit. Ich denke, das war nicht die wahre Liebe, denn dann ist auch ohne Worte alles klar.

Die Signalhupe ertönte und wir rannten zum Zug. Waren wir traurig, wieder wegzufahren? Es ist schwer, darauf eine ehrliche Antwort zu geben. Es war alles sehr interessant gewesen, so ganz anders, ungewöhnlich. Trotzdem spürten wir eine große Sehnsucht nach zu Hause, nach Mutter und Vater, und ich auch nach meiner schwangeren Schwester. Und ich freute mich darauf, ihnen alles zu erzählen und nichts zu vergessen.

Auf Wiedersehen Berlin. Ich war absolut sicher, dass wir uns noch einmal treffen würden, früher oder später. Es war auch mein unbedingter Wunsch. Aber in diesem Moment waren alle meine Gedanken auf Moskau gerichtet und darauf, so schnell wie möglich wieder dorthin zu kommen. In meinem Koffer lagen der Strampler für meinen zukünftigen Neffen, die Jacke von Petra und der Berliner Bär für unsere Marinka Generalova.